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© Mathias Voelzke © Maxie Fischer
Wer weiß denn schon, wie viele und welche
Bücher irgendwann einmal auf dieser
Welt schon verboten waren? Zum Beispiel
war Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“
in China zu Maos Zeiten verboten, weil die
Tiere an der Seite der Menschen intelligent
erschienen und dies nicht sein durfte. Die
Nazis verbrannten Bücher, weil sie entweder
von jüdischen Schriftstellern stammten,
oder nicht in das Denkmuster des Regimes
passten. Und möglicherweise wird sogar
im Amerika der Jetztzeit ein Bericht von
Wissenschaftlern über die Gründe der Klimaerwärmung
unterdrückt oder verboten,
weil dieser dem Präsidenten der USA nicht
ins Denkschema passt. Es sind also oft die
Politiker, die entscheiden, was andere lesen
dürfen und was nicht, meint die Künstlerin.
Der „Parthenon der Bücher“ besteht aus einer
Stahlgerüstkonstruktion in den Maßen
seines berühmten Namensvetters: 70 Meter
lang, 30 Meter breit und 20 Meter hoch.
Dieses Gitterwerk der Säulen, Friese und
Giebel des griechischen Tempels, der ihr als
Mahnmal, als ästhetisches Symbol für Demokratie,
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit
dient, ist mit ca. 100.000 Büchern – jedes
in Plastikfolie eingeschweißt – behängt.
Alle Bücher sind oder waren einmal auf der
Welt verboten. Verlage und andere Spender
haben 42.000 Werke zur Verfügung gestellt.
Der Rest wurde in der Aufbauzeit der Ausstellung
von privaten Spendern über eine
Art Crowdfunding-Aktion aufgetrieben.
Jeder konnte also an diesem „Parthenon
der Bücher“ mitbauen, sich beteiligen. Zum
Ende der documenta 14 sollen die gespendeten
Werke abgehängt und an Besucher
verteilt werden. Damit will die Künstlerin
auch Menschen, die sich selten Bücher leisten
können, den Besitz und das Lesen der
einst verbotenen Werke ermöglichen.
Die einzelnen Säulen und Teile der Architektur
sind mit einer Innenbeleuchtung versehen
und so wirken die Bücher nächtens
wie kleine Steinchen am Tempel. Bei Tag
sieht er wie aus kleinen, farbigen Mosaikteilen
zusammengesetzt aus. In jeder Hinsicht
spektakulär und eine der Hauptattraktionen
des Events!
Diese Aktion Minujíns, diese Installation,
drückt eine Haltung, eine Botschaft aus. Sie
bedient sich dazu der Architektur als Medium
und transportiert die Aussage über die
Hülle, das Bild. Im Gegensatz zu schnelllebigen
Bildern der Fassaden von Glas-,
Stahl- oder Betonbauten wird jedoch hier
eine Aussage, die weltweite Bedeutung hat,
getroffen. Als Seismograph für den Zustand
der Welt ist sie ein Spiegel all derjenigen gesellschaftlichen
und politischen Herausforderungen,
vor denen die Welt steht: Bücher
und Geschriebenes sind für manche Menschen
Gift, weil sie das Denken fördern.
Es wird damit ein materielles, gebautes Statement
wider den Zeitgeist des Populismus
und des sogenannten Liberalismus gesetzt.
Sowohl durch die Motivwahl, als auch durch
das Buch selbst, das als Grundbaustein jeder
Bildung bezeichnet werden kann. Der „Parthenon
der Bücher“ ist gerade in der Zeit der
immer weiter schreitenden Digitalisierung,
der Verlagerung des Wissens ins Internet ein
gewagtes aber gelungenes Kunstwerk. Es ist
auch das Ergebnis einer künstlerischen Auseinandersetzung
mit dem Hintergrund einer
Reife, eines Wissens und eines Zeitbewusstseins
sowie eine mahnende Geste, dass unsere
Freiheit bedroht ist und Werte bewahrt
werden sollten. Auch in der Architektur.
© Maxie Fischer