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127 www.architektur-online.com RETAIL architektur Das „Crystal House“ begann seine Existenz mit der Anfrage vom Investor Warenar Real Estate an das Architekturbüro MVRDV, einen Flagship Store zu entwerfen. Dieser sollte sowohl holländisches Kulturerbe mit internationaler Architektur verschmelzen, als auch sich in der P.C. Hooftstraat, Amsterdams teuerster Straße für Luxusmarken, befinden. Die Straße war in früheren Zeiten eine fast ausschließliche Wohngegend. Die Architekten bevorzugten für ihr Design ein Abbild der originalen Gebäude und fanden durch das intensive Experimentieren mit Glas eine Lösung. Die fast gänzlich aus Glas bestehende Fassade imitiert das Originaldesign des Hauses, bis zur Anordnung der Ziegel und der Details der Fensterumrahmungen. Aber sie ist vertikal gedehnt, um mit den neuesten Baugesetzen zu korrelieren und den benötigten, hohen Innenraum zu bieten. Die Glasziegel erstrecken sich aufwärts über die Ansicht und vermischen sich dort, wo die Wohnungen anfangen, mit ganz normalen Terracottaziegeln. Ganz wie es die ästhetischen Vorschriften der Stadt verlangen. So scheinen die Appartements über der Ebene des Geschäfts zu schweben. Komplett transparent Retailarchitektur findet nicht immer nur im Inneren des Shops statt, auch die äußere Erscheinung, die Visitenkarte sozusagen, gehört dazu. Kristalle (aus Glas) gehören zu den wohl nobelsten Design- und Schmuckstücken der Reichen und Betuchten und so ist es nicht verwunderlich, wenn ein „Crystal House“ das Heim der Nobelmarke Chanel wird. Fotos: Daria Scagliola & Stijn Brakkee Dieses Design soll die Hoffnung geben, dem Verlust der lokalen Architektur entgegen zu wirken, und zwar in Geschäftsarealen auf der ganzen Welt. Denn die ständig fortschreitende Globalisierung hat auch zu einer Homogenisierung und gewissen Uniformität der High-End-Einkaufsstraßen geführt. Das Crystal House bietet nun den Geschäften die Schaufensterfläche, die ein moderner Shop benötigt und erhält gleichzeitig den Charakter der örtlichen (historischen) Architektur. Sie bietet auch dem Flagship-Store die Individualität und Eigenständigkeit, die er braucht, um sich von den Mitbewerbern abzusetzen. Es ist ein Versuch, aus dem Abbruch etwas zu gewinnen und weiterzuentwickeln. Die Architektur macht Platz für ein bemerkenswertes Einzelobjekt, respektiert die alte Struktur der Umgebung und bringt eine poetische Innovation in eine Glaskonstruktion. Sie ermöglicht es globalen Marken, das besondere Interesse nach Transparenz im Display und in der Ansicht mit einem lokalen Touch zu kombinieren sowie Modernität mit kulturellem Erbe. So könnte es vielerorts in historischen Zentren angewandt werden. Die Glasziegel wurden einzeln von einer Glasfabrik in Resana, nahe Venedig hergestellt. Die dazugehörige Forschung fand an der Delft University of Technology statt und der hochfeste, durch UV-Licht abbindende Klebstoff kam von einer deutschen Firma. So konnten die einzelnen Ziegel ohne die Verwendung des traditionellen Mörtels verarbeitet werden. Es ist verständlich, dass bei dieser erstmalig verwendeten Konstruktionsmethode ein Team von Experten und Technikern während der ganzen Bauphase vor Ort war. Es gab auch ungewöhnliche Erfindungen dabei: Zum Beispiel erwies sich eine holländische Vollfettmilch als ideales Mittel, um durch ihre halbtransparente Flüssigkeit ein ideales Einnivellieren der ersten Schar der durchsichtigen Glasziegel zu ermöglichen. Auch stellte sich heraus, dass die Konstruktion höheren Belastungen als Beton standhielt. Der komplette Glasüberleger konnte zum Beispiel eine Belastung von 42.000 Newton aufnehmen – das sind zwei voll beladene SUVs. Das Material ist komplett recycelbar, nicht perfekte Ziegel wurden einfach eingeschmolzen und neu gegossen – somit ein nachhaltiges Baumaterial, abgesehen von den hohen Energiekosten für die Glasherstellung. Die einzige Ausnahme stellt ein hinter einer reflektierenden Blende eingebauter Rammschutz gegen Automobile dar.


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