Ethik und Nachhaltigkeit in Architektur und Zeit

9. März 2017 Mehr

Architektur und Zeit

Nicht nur die ökonomischen Krisen der letzten Zeit zwingen uns, den Gürtel enger zu schnallen. Einfach abreißen und neu bauen – das geht eigentlich nicht mehr. Viele überlegen beim Bauen, eine Verwendung oder neue Nutzung für bereits Bestehendes zu finden oder mit wenig Aufwand Neues entstehen zu lassen. Neben finanziellen Zwängen sind es aber auch vermehrt Aspekte einer sogenannten „architektonischen Ethik“ oder einfach Nachhaltigkeitsgedanken, die bei der Schaffung von neuer Architektur in den Vordergrund rücken. „Geht´s nicht ein bisschen einfacher, weniger technoid und mehr kontextgebunden?“, fragen sich immer mehr Architekturschaffende.

 

Elbphilharmonie

Foto: © Thies Raetzke

 

Der Slogan des deutschen Beitrags für die Architekturbiennale Venedig 2014 – Reduce, Reuse, Recycle – und zwar in genau dieser Reihenfolge, hat sich zu einem Mantra in gewissen Kreisen der Szene gemausert. Es lohnt sich, diese Entwicklung genauer zu betrachten, bzw. sie in einen zeitlich größeren Zusammenhang zu stellen und zu untersuchen. Vor nicht allzu langer Zeit (auf die ca. 10.000 jährige Geschichte der Baukunst bezogen) war Bauen ein Bereich, der den Ansprüchen des Wohnens, der Repräsentation, der Kunst und der Kirche vorbehalten war. Diese Bauten standen (fast) immer in einem Kontext gesellschaftlicher, ökologischer, religiöser und ortsgebundener Art. Zuschreibungen wie „schön“ oder „hässlich“ waren für diese Architekturen obsolet, wurden auch kaum getätigt. Als eine Begründung dafür könnte man könnte man im Sinne von I. Kants kategorischen Imperativ antworten: „Niemand baut für sich alleine“ und wir müssen alle Rücksicht aufeinander und die Umwelt nehmen. Die Diskussion darüber, wie das stattfinden soll, muss aber an anderer Stelle und zu einer anderen Zeit geführt werden.

Erst mit dem Entstehen und Aufkommen der industriellen Revolution (also eher in letzter Zeit) wurde ein weiterer Funktionszweig der Architektur entwickelt: die Industriearchitektur. Diese war anfangs (vgl. Bauhaus) noch durchaus liebevoll gestaltet, mit Accessoires versehen, hatte gestaltete, rhythmische Fassaden (Tabakfabrik/Linz von Peter Behrens und Alexander Popp). Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Wiederaufbau, legte man großteils jede Rücksicht auf Feinheit ab und produzierte Architektur als industrielles Produkt (Le Corbusier). „Time is money“ beziehungsweise der Gedanke der Gewinnmaximierung verdrängte alle anderen Überlegungen.

Nun am Ende eines produktions- und gewinnorientierten Zeitalters, am Beginn des Anthropzän, – die Zeit, in der der Mensch hier bereits als geologischer (nicht nur biologischer) Faktor so aktiv war, dass dies global spürbar war und ist – stehen wir vor der Herausforderung, mit den sogenannten „Altlasten“ etwas anzufangen. Wegreißen ist nicht unbedingt (obwohl in manchen Fällen durchaus legitim) die Lösung par excellence. In Vorarlberg ist ein Hausbesitzer wegen des unbewilligten Abrisses eines denkmalgeschützten Baus aus dem 14. Jahrhundert gerade zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt worden. In diesem Fall liegt jedoch das Übel weniger beim Eigentümer als einem Denkmalschutz, der einfach alles unter Schutz stellt, das älter als 100 Jahre ist. So geht es also auch nicht. Findige Architekten haben in dieser Nische längst einen neuen Geschäftszweig entdeckt. Mit der zeit- aber auch geld-intensiven Erneuerung, Wiederbelebung und Neunutzung alter Substanz lässt sich gutes Geld machen. Es soll aber hier keineswegs den Bauschaffenden ein reines Profitdenken unterstellt werden – wer viel investiert – sei es Zeit, Leistung, Kreativität – soll auch entsprechend entlohnt werden.
Dass solche Projekte kostenintensiv sein können, dafür ist wohl die gerade eröffnete Elbphilharmonie vom Schweizer Büro Herzog & de Meuron das beste Beispiel. Zeitliche Überschreitungen, Fehlplanungen, Misswirtschaft und politische Interventionen waren ebenso die Ursachen dafür, dass der Bau mittlerweile zu den zehn teuersten Hochbauten der Welt gehört.

 

Tabakfabrik Linz

Foto: © Thomas Diesenreiter

 

Es gibt eigentlich nur wenige, noch verschwenderische Prozesse, als das Wegreißen alter Bausubstanz und deren Ersetzung durch einen kompletten Neubau. Und obwohl diese Vorgangsweise einer ungeheuerlichen Fehlnutzung von Energie (graue Energie) und Material heute das Übliche ist, hat sich doch eine alternative Richtung des Weiterbenutzens von Abbruchmaterialien entwickelt (und damit ist nicht nur das „Urban Mining“ gemeint). Auf diese Weise errichtete Bauten enthalten oft Zitate und Erinnerungen an vergangene Zeiten, an (vielleicht) „bessere“ Zeiten und natürlich auch eine Verbindung zum Kontext des Ortes.

Einige Beispiele dieser adaptiven Neunutzung, der Konversion von alten Gebäuden in etwas, das besser in die zeitgemäßen Anforderungen passt, sollen hier nun gezeigt werden. Und zwar an vergangenen, momentanen und zukünftigen Projekten, welche durch ihren transformativen Anspruch Intelligenz und Vision vermitteln. Benutzte oder abgenutzte Objekte haben oft einen großen Reiz und Charakter, manchmal mehr als die sogenannten „eyecatcher“.

 

Relikt

In einem stillgelegten Industriekomplex an der Küste von Suffolk, England befindet sich in Snape Maltings, der vom Stardirigenten Benjamin Britten gegründete Aldeburgh Music Campus. Der gesamte Komplex ist „Grade 2 listed“ und viele der Gebäude sind immer noch halb verfallen. Der englische Denkmalschutz entwickelte zusammen mit Büros der Suffolk Coastal Planung eine Generalstrategie zur Wiederbelebung der Anlage. Die existierenden Fabriken sollten erhalten werden, und zwar mit ihrer Patina, den Spuren der Zeit und dem Charme. Gleichzeitig sollten dort, wo notwendig, in einer zeitgemäßen Architektursprache Ergänzungen vorgenommen werden. An einer Ecke des Grundstückes stand ein zweigeschossiger, alter Taubenschlag aus Ziegeln. 1970 zusammengefallen waren nur noch zwei bis drei Meter hohe Mauerreste übrig. Die enigmatische Qualität des Ortes, bereits halb verwachsen mit der Natur, zog Konzertbesucher und Musiker fast magisch an. Dieser Taubenschlag sollte nun zu einem Studio für Musiker werden.

Für das Architekturbüro Haworth Tompkins kam eine originalgetreue Restaurierung nicht infrage. Das hätte die Strategie für den Gesamtkomplex konterkariert. Sie wählten die Form des ursprünglichen Körpers, aber in einem absolut modernen Material: verwitterter Cortenstahl. Die Konstruktion bewältigten sie, indem sie den gesamten Körper – ein kleines Häuschen – mit einem Kran zwischen die stehen gebliebenen Grundmauern des Taubenschlages hineinsetzten. Der Cortenstahl verwitterte zu einer Rostfarbe, die fast exakt der Ziegelfarbe der Mauern entspricht, dieselbe Tönung wie die roten Suffolk-Ziegel. Eine Regenrinne zwischen Alt und Neu sorgt für die Entwässerung, im Inneren ist die Form unter einer Sperrholzverkleidung mit einer Vakuumisolierung versehen. Laminierte Sperrholzplatten ergeben auch die Stiege, Balustrade und Zwischenebene. Aus einer gewissen Distanz scheint das neue Gebäude wie eine geisterhafte Erscheinung der alten Architektur, aus der Nähe betrachtet, entpuppt es sich als etwas gänzlich Neues.

 

Fotos: © Haworth Tompkins

 

Moderne Nostalgie

Das Architekturbüro von Sorosi Zsolt und seiner Frau Kalóczki Éva fusionierten in der ländlichen Idylle von Erdöhorváti in Ungarn ein uraltes Bauernhaus mit einem hypermodernen, architektonischen Anbau. Den Außenauftritt der nostalgischen Moderne im ländlichen Norden Ungarns hat PREFA gestaltet. Futuristische Formen, Sichtbeton, große Glasflächen, Metalldach und -fassaden bieten eine lebendige Inspirationsquelle für Bauherren und sind hier perfekt dargestellt. Und während der uralte, fast noch original erhaltene Altbestand des niedrigen, kleinen und intimen Bauernhauses von 150 Jahren Geschichte des Ortes und seinen Menschen erzählt, berichtet das neu angeschlossene Architekturbüro mit der minimalistischen Fassade darüber, wie überraschend gut sich Innovation und Tradition verbinden lassen. Für das Altbaudach und die Neubaufassade wurde ausschließlich das Standardprodukt PREFALZ P.10 in hellgrau verwendet.

 

Erdoehorvati

Foto: ©PREFA/Croce

 

Arbeiten im Stall

Ähnlich wie in Ungarn, aber schon sechs Jahre früher, adaptierten die Svendborg Architects in Farum, Dänemark, ein strohgedecktes Bauernhaus teilweise zu einem zeitgemäßen Arbeitsraum. Sie ließen die fein strukturierten, mit weißem Putz versehenen Wände unberührt, entfernten das Dach und ersetzten dieses durch eine Kappe aus schwarz anodisiertem Aluminium. Dieses Element passt sich in Form und Maßstab an die bestehenden Häuser an, schafft also eine Beziehung zum Kontext. Im Innenraum arbeiteten sie mit reflektierenden Flächen, um Licht von oben (Dachluken) ins Innere zu bringen. Das Dach dient den Nutzern als Spiegel, um mehr Licht zu generieren. Auch hier sind es kleine, innovative Erneuerungen und Tricks, die in dem alten Volumen eine zeitgemäße Lebensqualität sichern.

 

Von Rom bis morgen

Das türkische Büro Superspace hat einen interessanten Beitrag zu einem Wettbewerb, ausgeschrieben von Metsä Wood (Finnland), geliefert. Bei der Ausschreibung ging es darum, modernen Wohnraum durch Verdichtung mit dem Material Holz zu kreieren. Besonders sollten dabei Objekte, die vom Verfall oder Abbruch bedroht waren, in den Blickwinkel genommen werden. Die Architekten wählten den „Valens Arch-way“, ein Viadukt in Istanbul, ein 921 Meter langes Bauwerk aus dem 4. Jahrhundert. Durch seine Steinkonstruktion bot es die besten Voraussetzungen für eine Erweiterung durch eine Holzkonstruktion, um so Wohnraum für die rapid wachsende Bevölkerung der Millionenmetropole zu generieren. Eine hölzerne Gitterstruktur, welche auf der Bogenkonstruktion aufliegt und in der Anordnung mit den darunterliegenden Öffnungen korrespondiert, dient als vertikale wie auch horizontale Grundlage für aus Holz gefertigte Hausmodule. Horizontal entstehen zwischen den Modulen Verbindungen und Promenaden, optisch ist es eine sehr ästhetische Lösung, die die Leichtigkeit der römischen Bogenkonstruktion aufnimmt und mit einem modernen Bild vervollständigt.

 

Valens Archway_Architekturbüro Superspace

Foto: © Superspace

 

Öffentlicher Raum

Besonders stark nimmt man architektonische Adaptierungen im öffentlichen Raum zur Kenntnis, da Veränderungen in der Zeit besonders stark im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. In Crecchio, einer kleinen italienischen Gemeinde in der Provinz Chieti, hat das Architekturbüro Rocco Valentini durch die Schaffung von Bodenflächen vor der Stadtmauer und dem Ducal-Schloss sowohl einen barrierefreien Zugang zu den historischen Anlagen geschaffen, als auch die parkenden Autos vor der Mauer entfernt und mit einem Beleuchtungskonzept, das absolut modern ist, einen Kontrapunkt zur Geschichte geschaffen. Der Blick des Besuchers trennt nun zwischen Alt und Neu und ermöglicht neue Fokussierungen.

 

Crecchio Ducal-Schloss

Foto: © Rocco Valentini

Schlussgedanken

Aber gerade im Hinblick auf die Zeitachse in der Architektur ist es auffällig, dass viele interessante und hier vorgestellte, innovative Lösungen bereits vor einigen Jahren entwickelt wurden. Heute ist es eher selten geworden, dass auffallende Lösungen entstehen. Vielleicht liegt ein Grund für diesen augenfälligen Rückgang an Kreativität in den überbordenden technischen, um nicht zu sagen technoiden Möglichkeiten der heutigen Zeit?

Text: Peter Reischer

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Kategorie: News, Sonderthema