Quest Forum an der alten Spinnerei – Behnisch Architekten
Eine transparente, leichte Erweiterung der bestehenden historischen Anlage der ehemaligen Baumwollspinnerei in Kolbermoor war gefragt. Im Gegensatz zu den kubischen, massiven Körpern des Bestandes vermittelt sie einen offenen, schwebenden Eindruck. Die netzartige Gurtstruktur, die eine sowohl temporäre als auch permanente Membranüberdachung trägt, bietet Raum für zusätzliche Gastronomieflächen wie auch Verkaufs- und Ausstellungsflächen für temporäre Veranstaltungen und Konzerte.
Die Stadt Kolbermoor, die 5 km westlich von Rosenheim in Bayern liegt, ist durch eine Tonfabrik, eine Strumpffabrik und durch die 1869 gegründete Baumwollspinnerei geprägt. Industrie und Gewerbe bestimmen das Stadtbild bis heute. Im Jahr 1993 stellte die Baumwollspinnerei ihren Betrieb ein. Bis 2006 war das Gelände weitgehend dem Verfall preisgegeben. In diesem Jahr übernahm der Investor Quest das Areal. Inzwischen sind dort in den teilweise denkmalgeschützten Einzelbauten Gewerbeflächen mit zahlreichen Geschäften und Einkaufsmärkten und Wohngebiete am Fluss entstanden. Einige Gebäude der alten Spinnerei wurden renoviert und blieben erhalten. Das Herzstück der Anlage ist das alte Kesselhaus, das wegen seines markanten Schornsteins weithin sichtbar ist. Hier sind ein Café und ein multifunktionaler Veranstaltungsraum untergebracht. Ein vorgelagerter Rosengarten lädt zum Spazierengehen ein.
Die 1972 für die Olympischen Spiele in München errichtete Seilnetzkonstruktion als Überdachung der Olympiabauten wurde von der Presse als das Paradestück oder Wunderwerk der Gesamtanlage bezeichnet. Sie ist architektonisches Pendant einer bewegten Landschaft, eine Sphäre der räumlichen Durchlässigkeit und Leichtigkeit. Vorbilder dafür waren Kieselalgen, Seifenblasen, Spinnennetze, Schalen- und Skelettformen als Beispiele optimierter räumlicher Strukturen, da die Natur ja ihr Ziel immer mit kleinstmöglichem Materialeinsatz erreicht.
Beim ersten Blick auf die neue Seilnetzstruktur in Kolbermoor mag man sich an das Münchner Bauwerk von Günter Behnisch erinnert fühlen, jedoch haben hier die Architekten eine weltweit einzigartige, neue netzartige Gurtstruktur entwickelt.
2009 wurden das 1989 gegründete Büro Behnisch Architekten unter der Leitung von Stefan Behnisch und seinen Partnern beauftragt, das Angebot des Veranstaltungszentrums um witterungsgeschützte, multifunktionale Freiflächen zu erweitern. Bei Bedarf sollten die Gastronomieflächen vergrößert werden können und Raum für Ausstellungen, Märkte, Konzerte und weitere Veranstaltungen geboten werden. Gleichzeitig sollte dadurch dem Rosengarten eine unverwechselbare Identität gegeben werden, die weithin für Aufmerksamkeit sorgt. Funktion, Kunst, Kultur und Natur sollten zu einer Einheit verschmelzen.
Die historischen Bestandsgebäude mit ihren großen Stahl/Glasfenstern wirken besonders durch ihre klare, kubische Formensprache.
Die Erweiterung nach außen sollte etwas Leichtes, Schwebendes werden. Sie trägt eine sowohl temporäre als auch permanente Membranüberdachung und spielt mit ihrer Optik auf das Textile, das Gewebte an. Durch das Thema des „Verwebens“ nimmt sie auch Bezug auf die Geschichte des Ortes und ist weniger Dach als filigran schwebende Skulptur. Sie ist eine architektonische Sphäre der räumlichen Durchlässigkeit und Leichtigkeit. Sie begrenzt und lässt trotzdem offen. Vier einzelne, von unten angestrahlte runde Pagoden unter der Gurtstruktur setzen zusätzliche Akzente und bieten Raum für besondere Nutzungen.
Sie können je nach Bedarf unterschiedlich genutzt oder optional durch Seitenwände geschlossen werden und befinden sich auf kreisförmigen Bodenflächen, die wiederum dem Rosengarten zusätzliche Akzente verleihen.
Die Verbindung eines Seil- oder Gurtnetzes, also einer einachsig belasteten Struktur, mit einer flächigen Membranüberdeckung, also einer zweiachsig belasteten Struktur, stellte die eigentliche ingenieurstechnische und architektonische Herausforderung dar.
Bei einer Membranüberdeckung erfolgt die Lastabtragung – beispielsweise durch Schneelasten – zweiachsig über die Fläche, wodurch sich diese in beide Richtungen dehnt. Bei der Gurtnetzstruktur dagegen erfolgt die Lastabtragung einachsig entlang der Gurte, wodurch sich diese sowohl in ihrer Längsrichtung dehnen als auch ihre Winkel zueinander verändern. Bei beiden Varianten wird hierdurch die Kraft in die Randseile und über diese wiederum in die Anschlusspunkte und in den Boden eingeleitet.
An der Alten Spinnerei in Kolbermoor verschmelzen diese beiden Tragsysteme zu einer Gesamtkonstruktion. Anders als bei der klaren Rasterung herkömmlicher Seilnetzstrukturen erscheint die Anordnung der Gurte eher frei und scheinbar willkürlich. Der darunter befindliche Rosengarten wird als Raum gefasst, jedoch nicht umschlossen. Die fast flächenhaft wirkenden Gurtsysteme bilden einen Rahmen für den Rosengarten und ein transparentes Dach darüber. Die durch die Dachmembran geschlossenen Flächen gehen fließend in die offenen der Gurtstrukturen über und setzen sich nicht über eine harte Kante voneinander ab. Technik und Ästhetik fügen sich hier zu einer Einheit zusammen.
Quest Forum an der alten Spinnerei
Kolbermoor, Deutschland
Bauherr: Quest Areal Kolbermoor GmbH & Co. KG
Planung: Behnisch Architekten München – Stefan Behnisch, David Cook, Martin Haas, Robert Hösle
Mitarbeiter: Wyly Brown, Christian Glander, Andreas Peyker
Statik: Knippers Helbig Advanced Engineering
Bauleitung: Quest Architekten, Rosenheim – Thomas Gerhager
Grundstücksfläche: 2.700m²
Bruttogeschossfläche: 265 m²
Planungsbeginn: 2008
Bauzeit: Jänner bis Juli 2010
Fertigstellung: Juli 2010
Kategorie: Projekte