Keine Entscheidung für die Ewigkeit
Nukleus-, Basis- und Filialwohnen – in San Riemo wird mehr als einfach nur gewohnt. Das Wohnhaus der Genossenschaft KOOPERATIVE GROSSSTADT im Osten von München steht ganz im Zeichen des Kollektivs: Es vereint verschiedene Wohnformen sowie Gemeinschafts- und Gewerbeflächen unter einem Dach. Anstatt starrer Grundrisse wandeln sich die Einheiten flexibel mit den Bedürfnissen ihrer Bewohner. Der Entwurf dafür stammt von der ARGE SUMMACUMFEMMER BÜRO JULIANE GREB.
Aufgrund der angespannten Immobiliensituation in der bayrischen Landeshauptstadt, erfreuen sich genossenschaftliche Bauprojekte immer größerer Beliebtheit. Auch die 2015 gegründete Wohnbaugenossenschaft KOOGRO hat es sich zum Ziel gemacht, günstigen Wohn-, Lebens- oder Arbeitsraum in München zu schaffen. Mit San Riemo setzten sie diesen Vorsatz zum ersten Mal in die Tat um. Seinen Namen erhielt das Projekt in Anlehnung an die italienische Riviera und die Messestadt Riem – das Viertel, in das sich der Neubau einfügt. Der Stadtteil avancierte in den letzten Jahrzehnten vom ehemaligen Flughafengelände zum beliebten Wohnquartier. Eine gute U-Bahn-Anbindung ans Zentrum rundet das Angebot am östlichen Stadtrand ab und macht Riem für viele (Neo-)Münchner attraktiv.
Entgegen ihrer Vorsätze, entschieden sich die ambitionierten Bauherren, im Zuge des öffentlichen Wettbewerbs, nicht für den Sieger, sondern für die zweitplatzierten Architekten. Aus Budgetgründen fiel die Wahl auf den Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft von Anne Femmer, Juliane Greb, Petter Krag und Florian Summa. Das deutsch-belgische Planerteam schuf ein flexibles Konzept, das sich den Anforderungen der Nutzer anpasst. Bedingt durch hohe Preise und eine prekäre Lage am Markt bleiben viele Stadtbewohner trotz veränderter Lebensumstände in Wohnungen, die nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen. In San Riemo soll das nicht passieren: Wer sich verkleinern will, muss nicht gleich umziehen, sondern gibt ungenutzte Räume ab. Wer mehr Platz braucht, teilt oder bekommt nach Möglichkeit Zimmer dazu.
Der längliche Wohnbau bildet die nordwestliche Ecke eines Blocks. Er ist parallel zur vorbeiführenden Heinrich-Böll-Straße positioniert und fasst mit den Nachbargebäuden einen geschützten Innenhof ein. An der nach Süden gerichteten Querseite befindet sich der Haupteingang zum Gebäude, von wo aus man direkt in das Herzstück von San Riemo gelangt: eine vier Meter hohe Multifunktionshalle. Diese erstreckt sich entlang der zum Garten gewandten Haushälfte über die gesamte Länge und ist Erschließung, Waschsalon, Cafeteria, Bibliothek, Werkstatt und Veranstaltungsort zugleich. Vorhänge zonieren den dynamischen Gemeinschaftsraum, in dem sich Bewohner und Besucher nicht nur beim Nachhausekommen, sondern auch zum Kochen und Waschen treffen. Der zur Straße orientierte Teil des Erdgeschosses wird gewerblich genutzt. Er beinhaltet auch die Räumlichkeiten einer Bildungseinrichtung für benachteiligte Jugendliche.
In den darüberliegenden fünf Wohngeschossen sollte das Haus „atmen“ können. Dafür entwickelten die Architekten den Bau rund um eine Betonskelettstruktur, die alle Installationen aufnimmt und Anschlüsse vorgibt. Aus dieser Konstruktion ergibt sich ein Grundraster mit Einheiten von jeweils 14 m2. Diese zeichnen sich in Form von Unterzügen an der Decke ab und strukturieren sämtliche Stockwerke. Innerhalb dieses Rasters trennen nichttragende Trockenbauelemente die einzelnen Räume ab. Die Abschnitte werden als kompakte Zimmer genutzt oder zu größeren Bereichen zusammengefasst. Wo und wie viele Zwischenwände sie wollten, entschieden die Nutzer selbst. Alle 27 Appartements sind so konzipiert, dass sie zukünftig nicht nur intern neu organisiert, sondern auch wohnungs- und geschossübergreifend wachsen und schrumpfen können. Um den Zimmertausch unter den Nachbarn niederschwellig zu ermöglichen, wandelt sich das Wohnhaus ganz ohne bauliche Maßnahmen – einfach mittels Türen. Räume lassen sich so im gegenseitigen Einvernehmen hinzu- oder wegschalten. Auch die Betriebskosten passen sich dank Heizkörpern mit integriertem Zähler im Nu an neue Wohnungsaufteilungen an.
Die in kräftigem Purpur und Hellblau gestalteten Treppenhäuser sind – ebenso wie die Küchen und Bäder – zentral positioniert. Rundherum ordnen sich an beiden Längsseiten des Baus die flexibel bespielbaren Räume an. Auf Flure verzichteten die Planer aus Leipzig und Gent, stattdessen wird jede Wohnung mittig durch die Küche betreten. Während im ersten Niveau eine therapeutische Wohngemeinschaft mit zehn Plätzen untergebracht ist, wünschte sich die KOOGRO auf den oberen Stockwerken drei Wohnungstypen: Basis, Nukleus und Filiale. Die Basiswohnung zielt auf weniger experimentierfreudige Personen ab, die eine klare Abgrenzung bevorzugen. In der Nukleuswohnung ist auf minimaler Fläche alles zum Leben Notwendige vorhanden. Zwischen den ca. 35 m2 großen Einheiten gibt es Extraräume, die von den Bewohnern selbst programmiert und bei Bedarf einem Haushalt zugeordnet werden können. Das Filialwohnen ähnelt einem Cluster: Gemeinschaftlich genutzte Flächen ergänzen den privaten Wohnraum mehrerer Appartements.
Die Fassaden von San Riemo fassen die bunten Nutzergruppen einheitlich und doch divers zusammen. Weißes Wellblech, türkise Farbakzente und rosa Sonnenschutz verleihen dem genossenschaftlichen Wohnhaus ein charakteristisches Erscheinungsbild. Zum Hof hin prägen Bandfenster die Ansichten. Vor die Holzrahmenelemente der straßenseitigen Front legen sich transluzente Lichtwellplatten und formen Wintergärten. Die vorgehängte Schicht ist unbeheizt und dient gleichzeitig als Pufferzone und Erweiterung der Wohnungen. Ganz ohne Abtrennungen wird sie als interaktiver, halbprivater Zwischenraum wahlweise zum kleinen Garten, Lager oder Spielplatz für Kinder und Haustiere. Eine Dachterrasse komplettiert das Programm des kollektiv gedachten und gelebten Projektes.
In einem partizipativen Planungsprozess gelang es der ARGE SUMMACUMFEMMER BÜRO JULIANE GREB, vom Farbcode bis hin zu den Wohnräumen, auf individuelle Wünsche einzugehen. Die beiden Büros übersetzten die Anforderung der Genossenschaft und der zukünftigen Bewohner in eine räumliche Infrastruktur für verschiedene Lebensstile, die Privatsphäre und gemeinschaftliches Miteinander zulässt und dabei das „Wir“ in den Mittelpunkt rückt. San Riemo wird zum Zuhause, das sich mit seinen Nutzern weiterentwickelt und so hoffentlich viele Generationen glücklich macht.
San Riemo
München, Deutschland
Bauherr: KOOPERATIVE GROSSSTADT
Planung: ARGE SUMMACUMFEMMER BÜRO JULIANE GREB
Planungsteam: Anne Femmer, Juliane Greb, Petter Krag und Florian Summa
Statik: Lieb Obermüller + Partner Beratende Ingenieure
TGA: Energieagentur Berghamer und Penzkofer
Freiraumplanung: BL9 Landschaftsarchitekten
Brandschutz: HSB Ingenieure
Bauphysik: Müller-BBM
Mobilitätskonzept: stattbau münchen
Wohnfläche: 2.670 m2
Planungsbeginn: 2017
Fertigstellung: 2020
www.summacumfemmer.com
www.julianegreb.com
Text: Edina Obermoser
Fotos: Petter Krag, Florian Summa
Kategorie: Projekte