Michael Wallraff – Vertikale öffentliche Räume

28. März 2012 Mehr

Wallraff

Architekt Michael Wallraff lebt und arbeitet in Wien und in Rechnitz/Burgenland. Von 1987–91 studierte er an der Akademie der Bildenden Künste, Wien bei Prof. Wonder Bühnenbild, von 1991–97 an der Universität für Angewandte Kunst, Wien, bei Prof. Prix und am Southern California Institute of Architecture, Los Angeles, Architektur. 1999 erfolgte die Bürogründung in Wien. Seine Forschungsarbeit „Der Vertikale Öffentliche Raum“ wurde 2011 im MAK ausgestellt. Er hat einen Lehrauftrag an der TU Wien, Abteilung Wohnbau und Entwerfen. architektur traf ihn im MUMOK-Café und unterhielt sich mit ihm über vertikale öffentliche Räume.

Margaretenturm Wien 2008-11, Modellfoto

architektur: Wir sitzen hier im MUMOK. Erwin Wurm hat vor ein paar Jahren als Intervention oder Kunstwerk ein Haus auf die Dachkante des Museums platziert: schief, überhängend sichtbar. Ist das in Ihrem Sinn ein vertikaler öffentlicher Raum gewesen?

Michael Wallraff: Das hat mit Architektur nichts zu tun. Das war ein reines Kunstprojekt. Ein Teil des vertikalen öffentlichen Raumes ist ja die Sichtbarkeit. Sehen und gesehen werden. Als sichtbares Zeichen war es natürlich von der Höhe her im öffentlichen Raum interessant.

Wo ordnen Sie sich selbst ein? Sehen Sie sich als Architekt?

Ja, natürlich! Ich bin eigentlich ein Architekt des zweiten Bildungsweges, vorher habe ich Kunst/Bühnenbild studiert. Diese Kunstaffinität habe ich beibehalten.

Was verstehen Sie unter guter Architektur?

Das ist eine schwierige Frage und ein sehr komplexes Thema. Man merkt das auch als Lehrer oder Juror. Es gibt Projekte, die einzelne Bereiche sehr gut abdecken, aber andere Bereiche auslassen. Manchmal glaube ich, wir haben es nur mit Fanatikern zu tun: Es gibt verschiedene Lager, Passivhausgegner und Befürworter und so weiter. Gute Architektur ist aber nicht eine Frage von technischen Lösungen, auch soziale und ökologische Kriterien zählen dazu.

Was ist für Sie RAUM? Wo beginnt der Raum, wo endet der Raum, wo fängt der UMRAUM an?

Im 19. Jahrhundert gab es klare Grenzen: Da gab es das Haustor, da bin ich hinaus- oder hineingegangen, und außerhalb war ich auf der Straße. Drinnen war privat, und alles, was draußen war, ist öffentlich. Heute, in einer komplexen Stadt, gibt es viele Zwischenzonen. Wie hier im MUMOK zum Beispiel: Das ist kein öffentlicher Raum, eher ein halböffentlicher. Wir sind ja nicht auf der Ringstraße. Wir erleben heute fließende Raumgrenzen.

Das klingt so, wie alle Architekten es gerne bezeichnen. Den „fließenden Raum“ reklamiert fast jeder Architekt für seine Arbeiten, für sein Denken.

Ich meine fließend nicht oberflächlich oder als formale Strategie. Ich versuche oft in den Projekten, die Grenze des Raumes eher auszudehnen, einen fließenden Übergang von außen nach innen und umgekehrt. Die Aufhebung der Schwellen: Mein Anliegen ist es halböffentliche, halbprivate Bereiche zu schaffen. Undefinierte Zwischenzonen, Resträume.

Ausstellungsansicht aus der Ausstellung „Artists‘ Books on Tour“ im MAK Wien, 2011-12

Sie haben relativ wenig gebaut im Sinn der Realisierung, sind Sie eher ein Theoretiker?

Nein, das, was in dem Buch „Vertikale öffentliche Strukturen“ dargestellt ist, hat natürlich etwas mit Theorie und Forschung zu tun. An und für sich ist mein Zugang aber kein theoretischer, eher ein handwerklicher. Ein sinnlicher, ein Ausprobieren, ein experimenteller aber kein geistiger Zugang. Das Geistige ist natürlich auch wichtig, das braucht man, um überzeugen zu können. In diesem Buch sind eher die nicht gebauten Projekte aufgelistet. Die gebauten Projekte befinden sich zum Beispiel hier im MUMOK, im Untergeschoß – das neue Kino.

In diversen Publikationen werden Sie mit der „städtebaulichen Avantgarde der 1960er-Jahre“ in Verbindung gesetzt. Was fasziniert Sie an diesen Denkansätzen von Hollein, seinen Transformationen wie der „Flugzeugträger“ als gestrandete Stadt oder Archigramms „Plug in City“?

Es gibt da noch eine Stufe vorher: Der eigentliche Aufbruch war ja in den 1920er-Jahren. Da wurde die Architektur geistig erweitert, durch Hilberseimer oder auch den frühen Mies van der Rohe. Da entstanden Beispiele für einen offeneren Begriff, was Architektur und Raum eben sein können. Bei Hollein, Cook etc. ging es darum, das Thema auszudehnen, sozusagen an die Grenze zu fahren. Von der Grenze aus wieder hineinzuschauen in das Kerngebiet.

Lebbeus Woods hat fast aus Prinzip nichts gebaut, seine Architektur ist eine Architektur des Zeichnens. Wie stehen Sie zu dieser Haltung, sich der materialisierten gebauten Architektur zu verweigern?

Woods hat nicht nur gezeichnet, er hat auch Modelle gebaut, sowie ich auch. Für mich nehme ich das nicht so reduziert in Anspruch. Ich möchte schon gewisse Dinge 1:1 ausprobieren, überprüfen ob das wirklich funktioniert. Im Modell kann man sehr viel ausprobieren, aber es gibt auch Dinge, die vom Maßstab her größer sein sollten.

Sind Sie ein nachhaltig denkender Planer?

Das ist heute das Problem jeder Ausschreibung. Die Vorgaben von Kennzahlen, Heizwertbedarf etc. das ist die Keule, mit der ein Architekt heute leben muss. Es geht ja darum, auf einen gewissen Lebenskomfort nicht verzichten zu müssen. Wenn jemand sagt: Ich fahre um ein Drittel weniger Auto – dann ist das ein Eingriff in sein tägliches Leben. Aber wenn sein Haus eine um ein Drittel dickere Außenwand hat, dann glaubt jeder, dass das sein Leben nicht verändert – es ist nachhaltig. Er hat damit sozusagen sein Gewissen entlastet.

Wie sehen Sie die ökologischen Aspekte Ihrer Interventionen. Sie haben gesagt, dass Sie an den naturähnlichen Phänomenen nicht die ökologischen, sondern die formalen Aspekte interessieren? Also kein Inhalt, sondern ein Bild? Ein Schein? Ein Anschein?

Wir beschäftigen uns sehr stark mit irregulären, mit zufallsartigen Strukturen. Man kann sich aus an der Natur angelehnten Prozessen und aus der Ökologie gewisse Dinge abschauen. Eine gute Struktur gibt meistens auch eine gute Form ab. In diesem Sinn interessieren mich die formalen Aspekte.
Die formale Frage ist jedoch vernetzt mit anderen Fragen. Mit statischen Fragen, mit Fragen der Gebäudehülle und auch mit sozialen Fragen.

Wie halten Sie es mit der Sichtbarkeit der Architektur? Ist das wichtig, oder gibt es andere Werte?

Die Aussage von Herman Czech „Die beste Architektur ist die, die keiner bemerkt“ ist ein bemerkenswerter Satz und eine bemerkenswerte Haltung. Es gibt eben verschiedene Arten von Sichtbarkeit. Zum Beispiel in St. Peter, einem eher desolaten Stadtteil von Graz: Da bauen wir nicht Zeichen für reiche Banker oder Industrielle, sondern eine Berufsschule, die ein komplett anderes soziales Gefüge als eine BMW-Welt hat. Das ist ein sozialer Kontext, zu dem ich auch stehen kann.

Berufsschule Graz St. Peter, Längsschnitt 1. Bauabschnitt

Ihr Projekt in Graz, St. Peter: Sie klappen da sozusagen eine Wiese an der Fassade hoch. Sieht interessant aus, aber wo ist da der öffentliche Raum? Öffentlich muss auch benutzbar sein.

Ganz so möchte ich das nicht sehen. Wir klappen nicht einfach eine Wiese hoch, es handelt sich um eine Gebäudehülle, die hochgeklappt ist. Sie hat eine Rückseite, hinter der ein sechsgeschoßiges, vertikales Atrium ist. Der Platz vor dem Gebäude wird durch die Wiese an der Fassade optisch vergrößert. Er hat rein visuell mehr Quadratmeter. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen der Wand und dem Platz.

Wer denken Sie, soll sich für die Finanzierung eines derartigen vertikalen Raumes, wie Sie ihn in Ihren Projekten andenken, interessieren?

Ich bin kein Finanzberater. Aber das ist grundsätzlich nicht anders als bei horizontalen Bauprojekten. Im Rahmen der Wiener Kommunalpolitik gäbe es sehr wohl Investoren für besondere Widmungen, für besondere Nutzungen. Wenn einer ein Hochhaus in Meidling gewidmet haben möchte, wo vorher keine entsprechende Widmung vorhanden war, dann muss er sich eben verpflichten, im sechsten oder zwölften Stock einen Park anzulegen und eine Fußgängerbrücke über das Wiental mitzubauen. Er bekommt seine 70 Meter Höhe statt der 30 Meter, muss aber der Stadt etwas zurückgeben.

Haben Sie als Architekt eine soziale Verantwortung?

Ja, eigentlich schon!

Philip Johnson lehnt eine soziale Verantwortung des Architekten explizit ab.

Ich verstehe seine Haltung – es ist eine mögliche Haltung – er spielt darauf an, dass der Architekt eine gewisse Rücksichtslosigkeit braucht. Er will ja nicht die Gesellschaft bedienen, sondern die Grenzen ausdehnen. Er fordert diese neuen Grenzen vom Bauherrn ein.

Was sagen Sie zu den schwebenden Städten von Thomas Saraceno, die gerade in einer Ausstellung in Berlin präsentiert werden?

Das erscheint mir auch wie ein Gedankenexperiment. Es ist auf jeden Fall begrüßenswert, den Gedankenhorizont zu erweitern. Grundsätzlich ist meine These die, dass die Städte dichter werden. Die Innenstadt von Wien ist schon sehr stark verdichtet. Das sieht man vielleicht nicht so, aber die ganzen Dachbodenausbauten tragen schon dazu bei.

Ist die Erdverbundenheit der Architekten nicht ein Denkhindernis, das eine kreative Entwicklung des Städtebaus verhindert?

Ich bin kein Science-Fiction-Fan. Ich bin ein relativ handwerklicher, tüftelnder Mensch. Niemand der mit seinem Kopf in den Höhen spazieren geht. Ich versuche immer die Utopie mit dem Jetzt, mit der Realität kurzzuschließen. Spekulieren ist schon wichtig, damit wir nicht in den festgefahrenen Denkmustern verhaftet bleiben. Aber eine Utopie berührt mich dann mehr, wenn sie an der Realität streift.

Sie sprechen immer von „vertikalen“ Strukturen, vom „vertikalen“ öffentlichen Raum. Wir haben in Wien doch nicht einmal einen einzigen horizontalen öffentlichen Raum, vielleicht abgesehen vom Museumsquartier. Wäre es nicht sinnvoll, sich einmal diesen Problemen und Definitionen zuzuwenden?

Natürlich, hier besteht ein enormer Handlungsbedarf der Stadtplaner und Politiker.

Mir fällt auf, dass Sie sich bei Ihren Projektenimmer wieder in den uns bekannten geometrischen/orthogonalen Achsen bewegen. Sie schaffen zwar manchmal fast biomorphe optische Hüllen Ihrer Interventionen, aber die Tragstrukturen sind auf dem x/y/z-Achsensystem aufgebaut. Warum?

Wir arbeiten bei unseren Projekten sehr früh schon mit Bauingenieuren zusammen. Weil wir da Strukturen erfinden, die sehr nahe an der physischen Realität sind. Das soll jetzt nicht nach „Baumarktwochenende“ klingen, denn unser Alltag soll sich ausdehnen, aber nicht abkoppeln.

Haben Sie Hoffnung auf eine Entwicklung der Architektur, des Städtebaus in die von Ihnen angedachte Richtung?

Bei der Berufsschule in Graz/St. Peter bauen wir jetzt den ersten Bauabschnitt. Da bin ich sehr gespannt auf die Resultate.

Das könnte Sie auch interessieren:

Arno Ritter – Der Weg nach Venedig
Regina Freimüller-Söllinger

Tags: , , , , , , , ,

Kategorie: Architekten im Gespräch