Kunststoff – Das Material der tausend Möglichkeiten
Sie heißen Dar, Panton, Floris, Tomate und sind Berühmtheiten. Entworfen von den legendären Designern Charles Eames, Verner Panton, Günter Beltzig oder Eero Aarnio zwischen 1941 und 1971, haben die Stühle und mit ihnen ihre skurrilen Namen Geschichte geschrieben: Extravagante Kunststoff-Möbel, die völlig neue Formen und Oberflächen präsentierten.
Am Anfang wurden die Begriffe Kunststoff und Plastik ständig verwechselt. Die Begriffsvermischung stammte von der Tatsache, dass Kunststoffe damals noch überwiegend durch einfache Umformungsverfahren (plastisch=verformbar) zur Herstellung von Massenartikeln genutzt wurden.
Was aber ist Kunststoff? Alle Kunststoffe haben eine gemeinsame Eigenschaft: Sie bestehen aus Polymeren und sind – ob natürlich oder künstlich – (einfach gesagt) ein riesig großes Molekül, das aus vielen Einzelbausteinen, sogenannten Monomeren, zusammengesetzt ist. Im einfachsten Fall ist das eine sehr lange Kette aus immer dem gleichen Baustein. Das Polyethylen (der Plastiktüten) ist ein Beispiel dafür.
Mit diesem Werkstoff gelang nun ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts im Möbelbau, was vorher unmöglich schien: Eine geniale Kombination von Design und Funktion. Auch heute noch überraschen vielfältige, innovainnovative Kunststoff-Produkte für Wohnzimmer, Küche, Büro ständig aufs Neue.
Damals waren sie fröhlich-bunt in Orange oder Rot gehalten, oft mit eleganten Kurven versehen und skulptural gestaltet: Wie kaum ein anderes Produkt der Wohnkultur visualisieren die Stühle der 1960er und 1970er Jahre den Siegeszug eines einzelnen Werkstoffs. Mit der Erfindung des ersten vollsynthetischen Kunststoffs Bakelit durch den belgischen Chemiker Leo Baekeland 1907 stand zwar schon früh eine günstige, haltbare, formbare Masse für innovative Telefone, Radios oder Lampen bereit. Doch erst die Massenproduktion der Kunststoffe Polyester, Polyethylen, oder auch Polyurethan rund 50 Jahre später, ermöglichte es Designern, Möbeln gänzlich neue, flexible und bis dahin unbekannte Formen sowie Farben zu geben.
Mit dem Start der wirtschaftlichen Herstellung konnten Gestalter wie der Däne Verner Panton die immensen technischen Vorteile von Kunststoff voll ausschöpfen. Denn das Material ist belastbar und dauerhaft, lässt sich leicht einfärben und verarbeiten, ist pflegeleicht, lebensmittelecht und recycelbar.
Kunststoffmöbel werden zu Designobjekten
In den 60er Jahren entstehen fantastische Sitzmöbel aus Kunststoff, denn plötzlich sind alle Formen möglich – gepolsterte Schalen mit Rohrgestellen, wie der DAF-Stuhl von George Nelson, stapelbare Hocker wie der legendäre Kinderstuhl des italienisch-deutschen Designerduos Zanuso und Sapper oder der runde „Dosen“-Sessel mit aufklappbarer Rücklehne vom gebürtigen Ungarn Peter Ghyczy. Die Rohmasse liefern Hersteller wie Ticona aus Frankfurt, BASF aus Ludwigshafen oder der US-Konzern DuPont.
In Italien avanciert die Firma Kartell zu einem Taktgeber der aufkommenden Plastikepoche. Ihr Gründer Giulio Castelli verpflichtet die besten Designer seiner Zeit, wie etwa den Mailänder Joe Colombo, dessen Stapelstuhl „Universale“ aus ABS-Kunststoff zum Bestseller wird.
„Kunststoff hat den riesengroßen Vorteil, dass man seine Ideen besser als mit jedem anderen Material verwirklichen kann. Man hat eine unbegrenzte Formbarkeit, weil es von einem flüssigen in einen harten Zustand überführt wird“, begründet Stephan Koziol Faszination und Erfolg des Materials. Kunststoff sei eine wunderbare Spielwiese, sagt der Designer, dessen Firma seit 1932 mit Kunststoff experimentiert.
In den USA, Europa, in Asien entsteht ein regelrechter Run nach quietschbunten Schüsseln, Eierbechern, Tischen, Stühlen, Lampen aus Plastik. Rund 15 Millionen Tonnen Kunststoff werden 1965 weltweit hergestellt, 1976 sind es schon 50 Millionen Tonnen.
Ökologisch verträgliche Kunststoffe kommen
Erst die beiden globalen Ölkrisen 1973 und 1979 bremsen den Kunststoff-Boom. Steigende Preise für die Ausgangssubstanz Ethylen, das aus Erdöl und Erdgas gewonnen wird, und die Diskussion über die ökologischen Folgen einer wenig nachhaltig handelnden Gesellschaft ließen Plastik zumindest im Haushalt für ein Jahrzehnt unmodern werden. Bis innovative Produktionstechniken und junge, spannende Designs Anfang der 1990er Jahre den nächsten ‚Kunststoffboom’ bewirken.
Es werden neue Verfahren zur Wiederverwertung von Kunststoffen und biologisch abbaubare Produkte entwickelt. Rohstoff- und Energieeinsatz bei der Herstellung sinken sukzessive. Neue Stabilisatoren und Additive machen Massenkunststoffe wie Polyethylen, Polypropylen und Polyvinylchlorid noch langlebiger, witterungsbeständiger und kratzfester.
Berühmte Gestalter wie Philippe Starck entdecken Kunststoff für Möbel neu – 1988 formt der französische Designstar für Kartell aus Plastik und Stahl den Stuhl „Dr. Glob“, der bereits im ersten Jahr fünfzigtausend Mal verkauft wird.
Der Italiener Gaetano Pesce kann dank Kunststoff mit dem 1987 gestalteten „Feltri Chair“ vollendet auf die menschlichen Formen und Gestalt angepasste Stühle entwerfen.
Lifestyle trifft auf Funktionalität
Ab 2000 ist das Material ist gefragt wie nie. 2003 werden weltweit 200 Millionen Tonnen Kunststoffe produziert, 2008 schon über 280 Millionen Tonnen: Kunststoffe finden sich in Autos und Flugzeugen, technischen Textilien, Sanitär- und Elektroprodukten, in Lifestyleund Wohnaccessoires.
Stilprägend bei Möbeln ist der Deutsche Konstantin Grcic mit seinem Stuhl „Myto“. 2007 feierte der Monoblock-Freischwinger aus Polybutylenterephthalat – kurz PBT – Premiere.
Als neue Interpretation eines Freischwingers, der erstmals komplett aus Kunststoff gefertigt wurde, ist „Myto“ sofort ein Designklassiker und wird in die permanente Kollektion des Museum of Modern Art in New York aufgenommen. 2008 revolutioniert der Brite Jasper Morrison mit „Basel Chair“ das Prinzip des klassischen Holzstuhls; er formte die Rückenlehne und die Sitzfläche aus Kunststoff, damit sind sie im Vergleich zum Naturmaterial stärker organisch verformbar und können in der Oberfläche strukturiert und flexibler ausgeführt werden.
Der deutsche Stardesigner Luigi Colani, der für seine biomorphen Auto- und Konsumgüterformen bekannt ist, formuliert leidenschaftlich: „Die Kunststoffhersteller können und müssen jetzt zur Kreativität der 50er und 60er Jahre zurückfinden. `Go back to go forward´.“
Dem Plädoyer folgen der brasilianische Designer Guto Indio da Costa und der deutsche Kunststoffhersteller Ticona beim „IC01“. Der preisgekrönte Stuhl von 2011 besticht durch klare Formen, er wirkt puristisch, ist funktional und technisch innovativ – Lifestyle trifft wie selbstverständlich auf Funktionalität. Der nur 5,5 Kilogramm schwere Stuhl wird in nur einem Vorgang aus dem Rohmaterial gespritzt.
1980 formulierte der verstorbene, französische Philosoph Roland Barthes, Plastik sei weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung. Genau das hat offenbar schon der Vater des Kunststoffs, Leo Baekeland, vor 100 Jahren erkannt und den knetbaren Stoff – so die englische Übersetzung von „plastic“ – als „Material der tausend Möglichkeiten“ gerühmt.
Kategorie: Design