Die Seestadt Aspern – eine Retortenstadt als smartes Zentrum für Wien?
Der Begriff ‚Seestadt Aspern’ geistert bereits seit einigen Jahren durch die Medienlandschaft und sorgt nicht nur in der Architekturszene für gespaltene Meinungen. Das Projekt, welches auf dem Masterplan des Architekten Johannes Tovatt aufbaut, soll nicht nur zu einem eigenständigen Stadtteil werden, sondern auch einen großen Teil zur Urbanisierung des zersiedelten Stadtrands im 22. Wiener Gemeindebezirk beitragen.
Für die Namensgebung desselben ist ein zentral angelegter See, der das zukünftige Zentrum des Planungsgebiets darstellen soll, verantwortlich.
Bei der Realisierung des Projekts will man etappenweise vorgehen, wobei die Planung insgesamt in drei Phasen verläuft. Deren Ausführung soll jeweils in einem Abstand von mehreren Jahren erfolgen. Die Besonderheit der Seestadt liegt außerdem darin, dass auf jenem Areal bei Null begonnen wird – es müssen nicht nur Straßen und Bauwerke errichtet, sondern auch Verkehrsanbindungen geschaffen werden. Ein großes Projekt stellt in diesem Kontext die Verlängerung der U2 dar. Insgesamt 3 Stationen jener Linie werden sich in Zukunft in der Seestadt befinden.
Die Seestadt als Smart City
Der neue Stadtteil am östlichen Rand des 22. Wiener Gemeindebezirks soll Wohn- und Arbeitsplätze für über 20.000 Menschen zur Verfügung stellen und laut Projekt-Homepage zur „Stadt für den Lebensstil des 21. Jahrhunderts“ werden. Hinter dieser vieldeutigen Phrase versteckt sich ein umweltschonender Nutzungsmix aus Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Auf diese Weise soll die Seestadt Aspern nicht nur Wohnkomfort bieten, sondern die Menschen auch auf die Straße locken. Ein Szenario wie in den abgelegenen sowie in gleichem Maße leblosen Wiener Großwohnsiedlungen will die ,Wien 3420 Aspern Development AG‘ dadurch vermeiden.
Im Zuge der genannten Zielsetzung findet auch das Thema Nachhaltigkeit Platz. So soll die Seestadt in Europa die Vorreiterrolle unter den energieeffizienten Städten einnehmen. Der Schwerpunkt wird hierbei sowohl auf die Verwendung erneuerbarer Energiequellen als auch auf den Einsatz alternativer Mobilitätssysteme gelegt. Aus diesem Grund wird die 240 ha große Fläche in jüngster Zeit immer öfter als Smart City bezeichnet. Doch was genau wird heutzutage unter diesem Begriff verstanden?
Eine Smart City zeichnet sich durch eine intelligente und effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen aus. Hieraus soll eine Verbesserung der Lebensqualität sowie eine deutliche Kosten- und Energieersparnis resultieren. In diesem Kontext spielt zudem der Verzicht auf fossile Energien sowie die Reduktion der Treibhausgase eine wichtige Rolle. Zu den städtebaulichen Qualitäten der Smart City gehören eine kompakte, verdichtete Baustruktur und eine lückenlose – möglichst autofreie – Verkehrsanbindung. Auf diese Weise soll die viel zitierte ,Stadt der kurzen Wege‘ entstehen. Bei der Bewertung von Qualitätsmerkmalen einer Stadt nimmt auch der ökologische Fußabdruck eine wichtige Stellung ein. Dieser Begriff dient dazu, aufzuzeigen, wie viel Anteil der Erdoberfläche benötigt wird, um den heutigen Lebensstil der Menschen zu gewährleisten. In die Berechnung jenes Nachhaltigkeitsmaßes fließen die Faktoren Wohnen, Mobilität, Ernährung und Konsum mit ein. Im Zuge des Smart City Konzeptes soll dieser Abdruck möglichst klein gehalten werden. Insgesamt gesehen gilt eine Stadt dann als ‚smart‘, wenn die Nutzung fossiler Energien gesenkt und zeitgleich die Lebensqualität gesteigert wird.
Auch Wien hat sich in diesem Kontext schon einen Namen gemacht. Im Zuge eines Top-10-Ratings der Smart Citys, welches vom Autor und Klimastrategen Boyd Cohen vorgenommen wurde, nimmt die Hauptstadt Österreichs den 1. Platz ein. Wien punktet dabei vor allem in den Bereichen Lebensqualität, Innovation und der Qualität regionaler Grünräume.
Mit der Seestadt Aspern soll also quasi eine Smart City in der Smart City geschaffen werden. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob die Seestadt durch ihre Randlage den Smart City Leitlinien nicht widerspricht. Beim Konzept der intelligenten Städte wird nämlich – wie übrigens auch im Wiener Stadtentwicklungsplan 2005 festgelegt – eher auf die Verdichtung innerstädtischer Zonen gesetzt.
Trotz seiner Randlage soll jenem Stadtteil zusätzlich eine Funktion als urbanes Zentrum zu Teil werden. Laut der Homepage schafft dieses „Ausgleich zwischen privaten Wünschen und beruflichen Ansprüchen, zwischen Erfolg und gesellschaftlicher Verantwortung“.
Belebtes Zentrum oder Schlafstadt?
Was sich auf den ersten Blick recht beeindruckend anhört, kann schnell zur Ursache städtebaulicher Probleme werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Seestadt im Laufe der letzten Jahre zahlreichen Kritiken ausgesetzt war. Als große Schwierigkeit wird dabei unter anderem die erwähnte Lage der zukünftigen Retortenstadt angesehen. Im ungünstigsten Fall wird nämlich durch das Festlegen eines Zentrums am Stadtrand und der Verlängerung wichtiger ÖPNV-Linien (Öffentlicher Personen und Nahverkehr) der erste Schritt in Richtung Zersiedelung gesetzt.
Was von der Wien 3420 AG als ,Top-Standort‘ angepriesen wird, könnte sich bei Eintreffen einiger ungünstiger Faktoren außerdem leicht in Richtung Schlafstadt entwickeln. Aufgrund der Abgelegenheit der Seestadt Aspern kann es nämlich passieren, dass potenzielle Bewohner ein Leben in zentrumsnahen Gebieten, wie beispielsweise dem 2. Wiener Gemeindebezirk, der ebenfalls mit einer gut ausgebauten Infrastruktur und einem abwechslungsreichen Freizeitangebot punktet, vorziehen.
Laut der Verkehrswissenschaftlerin Gerda Hartl wird sich die Seestadt zudem nur schwer als lokales Zentrum etablieren können. Schuld daran sei die verwinkelte Führung wichtiger Straßen, welche obendrein nur umständlich zu erreichen sind. Dadurch kann es passieren, dass das ehemalige Flugfeld auf potenzielle Besucher wenig einladend wirkt.
Kritik wurde unter diesem Gesichtspunkt auch an der Seepromenade als lokales Zentrum geübt. Dieselbe stellt nämlich eine gebrochene Linie dar und wirkt auf Fußgänger daher nicht besonders anziehend. Hierbei handelt es sich im Übrigen um typische Probleme, die bei einem Stadtteil, der nicht auf natürliche Weise gewachsen ist, auftreten.
Tatsächlich hofft man derzeit darauf, zukünftige Mieter mithilfe gezielter Werbekampagnen anzulocken. Große Bedeutung wird hierbei, laut Architekt DI Rüdiger Lainer, sogenannten Leuchtturmprojekten zugeschrieben. Hierunter werden innovative Maßnahmen, denen gleichzeitig eine Vorbildwirkung zukommt, verstanden. Beim im Oktober 2012 eröffneten Technologiezentrum IQ handelt es sich um solch einen Meilenstein. Dem Gebäude soll nicht nur die Funktion als Unternehmensstandort, sondern auch eine Vorbildwirkung in punkto Energieautarkie zukommen.
Einen weiteren beliebten Kritikpunkt stellen die hohen Kosten des 4 Milliarden Euro teuren Projekts dar. In erster Linie ist hierbei die Verkehrserschließung zu erwähnen. Tatsache ist, dass die Verlängerung der U2 hauptsächlich aufgrund des Projektes ,Seestadt Aspern‘ erfolgte. Die Gesamtkosten der Verlängerung belaufen sich auf insgesamt 1,4 Milliarden Euro. Um verkehrstechnische Engpässe im MIV (Motorisierten Individualverkehr) zu vermeiden, soll die Seestadt zudem durch die Asfinag an die A23 angebunden werden. Tatsächlich gab es bis ins Jahr 2011 noch Zweifel, ob die Stadt Wien einen Teil der Kosten für das Projekt übernehmen würde. Die Endsumme für diese Maßnahme beläuft sich auf 11,3
Millionen Euro.
Nicht zuletzt hängt der Erfolg des Projekts von einer gewissen Durchmischung an Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen sowie Gastronomiestätten ab. Auf diesem Gebiet sah sich das Konzept der Seestadt Aspern ebenfalls schon mit Misserfolgen konfrontiert. Sowohl die Technische Universität Wien als auch die Wirtschaftsuniversität Wien lehnten das ehemalige Flugfeld als Standort ab. Ebenso sind zahlreiche Wohnbauträger – darunter das ÖSW (Österreichisches Siedlungswerk) – von der Retortenstadt nicht überzeugt. Will die Seestadt also nicht das gefürchtete Prädikat „Schlafstadt“ aufgedrückt bekommen, müssen sich so bald wie möglich ansiedlungswillige Unternehmen finden – immerhin sollen die ersten Wohnungen spätestens Ende 2014 bezugsfertig sein.
Chance durch Vorbilder?
Mittlerweile gibt es in einigen Städten Europas Stadtteile, die dem Konzept der Seestadt Aspern ähnlich sind und Denkanstöße für die Entwicklung des Wiener Projekts liefern können. Erwähnenswert ist hierbei insbesondere das ehemalige Industrieviertel Vastra Hamnen in der schwedischen Stadt Malmö. Im Jahr 2025 soll es dort Wohnungen für 10.000 Menschen und ebensoviele Arbeitsplätze geben. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Errichtung eines klimaneutralen Stadtviertels gelegt. Im Rahmen der Energieversorgung setzt Vastra Hamnen auf erneuerbare Energie, die aus Biogas, Sonne und Wind gewonnen wird. Für die Seestadt Aspern können außerdem die öffentlichen Räume des Malmöer Distrikts, die als soziale Treffpunkte ohne Konsumzwang gestaltet werden, eine Vorbildfunktion haben. Ein weiteres Projekt, welches Ähnlichkeiten mit dem ehemaligen Flugfeld aufweist, ist die Hafen City in Hamburg. Das mit 157 ha etwas kleinere Areal verzichtet auf den Bau von Einkaufszentren und setzt eher auf kleinere Einzelhandelsflächen. Wohnbaustadtrat Michael Ludwig würde solch eine Entwicklung auch in Aspern begrüßen. Die Existenz vieler kleiner Gewerbeflächen könnte nicht nur Abwechslung ins Ortsbild, sondern bei günstiger Platzierung auch Leben auf die Straßen des ehemaligen Flugfeldes bringen. In Anlehnung an diese Tatsache ist noch die geplante gewerbliche Nutzung der Erdgeschoßzonen in der Seestadt Aspern – die bereits einen Schritt in die richtige Richtung darstellt – zu erwähnen. Trotz der genannten Aspekte darf die Hafen City nicht zur Gänze als Vorbild angesehen werden. Grund hierfür ist die fehlende soziale Diversität bei der Bevölkerung des modernen Hamburger Stadtteils. Dieses Problem ist den hohen Mietpreisen der Wohnobjekte in Hamburg, welche in den kommenden Jahren sogar noch teurer werden sollen, zu verdanken. Die Wiener Seestadt will jener Tendenz durch die Integration geförderten Wohnbaus entgegenwirken. Auf diese Weise soll Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen ein Leben in diesem Stadtviertel ermöglichst werden. Ob die Seestadt Aspern wirklich zum smarten Zentrum Wiens avanciert, lässt sich am Planungsfortschritt noch nicht ablesen. Welche Richtung das Areal letzten Endes einschlägt, hängt nicht nur von der Gunst der Firmen, sondern auch davon ab, wie flexibel man auf ungeplante Entwicklungen der Zukunft reagiert.
Kategorie: Architekturszene