Die Gartenstadt – veraltetes Konzept oder Modell der Zukunft?

29. Oktober 2019 Mehr

Die Gartenstadt – veraltetes Konzept oder Lebensmodell der Zukunft?

Gartenstadt – Nicht nur die Sorge um Ökologie und Umwelt, sondern auch steigende Mietpreise und Wohnungsnot treiben die Menschen heute auf die Straße. Gleichzeitig wächst in der Gesellschaft der Wunsch nach einem nachhaltigen Lebensstil. Die Bauwirtschaft stellt dies vor eine große Herausforderung. Denn um die Folgen des Klimawandels abzuwehren, gilt es, schnelle und realistische Lösungen zu finden.

Ein großer Problemfaktor sind die versiegelten Oberflächen in den Städten. Sie speichern Wärme und verschlimmern durch das Entstehen urbaner Hitzeinseln die Auswirkungen der Erderwärmung. Auch nachts kühlen die Areale nicht aus – zum Teil mit fatalen Folgen. Denn sowohl auf die Umwelt als auch auf die Stadtbewohner haben dauerhaft hohe Temperaturen negative Auswirkungen: Verringerte Leistungsfähigkeit, Stress und Schlafmangel bis hin zum Kreislaufkollaps sind die Konsequenzen.

Einen Lösungsansatz liefert das Modell der historischen Gartenstadt, vor über hundert Jahren als Reaktion auf gesellschaftliche und soziale Spannungen in den Großstädten initiiert. Die auf dieser Idee beruhenden Siedlungen sind eigenständig und leben das heute angestrebte Konzept der Resilienz – also die Nutzung persönlicher Ressourcen zum Überleben. Gleichzeitig existieren die begrünten Wohnsiedlungen unabhängig von Stadt und Land. Die Bewohner versorgen sich mit selbst erzeugten Nahrungsmitteln und arbeiten in der Gartenstadt. Das auf den ersten Blick utopische Konzept liefert glaubhafte Lösungsansätze für das heutige Krisenmanagement der Stadt- und Regionalplanung.

 

Gartenstadt Wien

 

Eine Utopie als Lösungsansatz

„Eine Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilem Gelände, das dauernd in Obereigentum der Gemeinschaft gehalten wird, derart dass jede Spekulation mit dem Grund und Boden unmöglich ist.“ So lauteten die Statuten der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft.
Die ursprünglich als Utopie formulierte Idee lieferte Antworten auf die Sozial- und Wohnprobleme der Menschen. Der Brite Ebenezer Howard entwickelte das heute bekannte Modell der Gartenstadt im Jahr 1898. Eine gesteuerte Stadtentwicklung war damals der Gegenpol zu den schlechten Lebensbedingungen in stark verschmutzten Metropolen wie London. Die Neubegründung von unabhängigen Siedlungen sollte das unkontrollierte Wachstum von Großstädten und die damit verbundenen Probleme, wie die Bildung von Slums und Satellitenstädten, eindämmen. Gleichzeitig wurde mit der Gartensiedlung die strikte Trennung von Stadt und Land aufgehoben. Die Bewohner solcher Wohnquartiere sollten in den Genuss der Vorteile einer Großstadt kommen, ohne ihre Nachteile zu erleben. Kennzeichnend für die Siedlungen war außerdem eine feste Zuordnung von Bau- und Verkehrselementen. Durch die Funktionstrennung beinhalteten traditionelle Gartenstädte Wohn- und Industrieviertel sowie Haupt- und Nebenzentren.
Ihre Blütezeit erlebte die Gartenstadtbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Laut der Idee von Howard sollten die Wohnsiedlungen auf Ackerland, im Umfeld großer Siedlungsgebiete errichtet werden. Die ideale Gartenstadt setzte sich aus sieben unabhängigen Teilen in Form mittelgroßer Stadtzentren zusammen – diese wurden durch breite Agrargürtel voneinander getrennt. Durch ein öffentliches Verkehrsnetz aus Straßenbahnen, Eisenbahnen und U-Bahnen waren sie trotzdem untereinander vernetzt.
Bei der Utopie blieb es nicht. Schon 1903 realisierten die Planer Barry Parker und Raymond Unwin in der englischen Grafschaft Hertfordshire die Gartenstadt Letchworth. Im Jahr 1920 wurde mit der Welwyn Garden City die zweite Siedlung dieser Art gegründet – die von Louis de Soissons entworfene Stadt zählt heute über 43.000 Einwohner. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Gartenstadtbewegung in England einen starken Aufschwung. Ab 1944 realisierte Großbritannien rund um London mehrere sogenannter New Towns. Finanziert wurden sie allesamt mit staatlichen Mitteln. Dabei fungierten sie als Gegenstück zur industriellen Großstadt und ermöglichten den Bewohnern bessere Lebensbedingungen. Außerdem entlasteten die Kleinstädte die bevölkerungsstarke Metropole. Die New Towns zeichneten sich durch einen hohen Grünflächenanteil, eine pluralistische Bausubstanz sowie eine strikte Funktionstrennung aus. Insgesamt wurden in Großbritannien mehr als 60 solcher Gartenstädte realisiert.
Auch im deutschsprachigen Raum fand das Modell „Gartenstadt“ Anklang. Zwischen 1912 und 1955 erfolgte mit der Knerling-Siedlung die Errichtung einer der ersten begrünten Wohnanlagen. Sie ist heute noch unverändert erhalten. Vorzeigemodell ist jedoch die Siedlung Hellerau in Dresden. Sie ist auch die einzige „echte Gartenstadt“, die nach dem Vorbild Howards im deutschsprachigen Raum realisiert wurde. Kernstück des Stadtteils sind die „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“. Rund um diese Einrichtung schuf Architekt Richard Riemerschmid einen lebendigen Organismus aus Wohnen, Kultur und Bildung. Kleinstwohnhäuser, Landhäuser, ein Markt, Geschäfte und soziale Einrichtungen prägen noch heute das Bild der Siedlung. Sie ist damit ein Positivbeispiel für eine gekonnte Umsetzung der einst utopischen Idee.

 

Floridsdorf Gartenstadt

 

Die Gartenstadt in Österreich

In Österreich fasste das Konzept der Gartenstadt ebenfalls Fuß. Viele dieser Siedlungsformen sind noch heute erhalten und bereichern das Ortsbild ihrer Städte. Wien wurde dadurch sogar um einige Gemeindebauten nach dem Modell Howards reicher. Der Karl-Seitz-Hof in Floridsdorf und die Siedlung Lockerwiese in Hietzing wurden beide als Gartenstadt errichtet, sind in ihrer Bauweise aber sehr verschieden.
Der Karl-Seitz-Hof im 21. Wiener Gemeindebezirk wirkt auf den ersten Blick wie eine Festung. Bei näherer Betrachtung fallen weite Grünflächen sowie soziale Einrichtungen auf. Kennzeichnend für den Gemeindebau ist die geschickte Anlage von Innenhöfen und Wohnbauten sowie der geringe Flächenverbrauch. Auf 25.320 Quadratmetern wurden zwischen 1926 und 1931 1.173 Wohnungen samt Parks errichtet. In den 1930er-Jahren war dies nicht selbstverständlich. Häuser, die nicht einmal die Hälfte ihrer Grundstücksfläche in Anspruch nahmen, waren damals eine Seltenheit. Insbesondere am Stadtrand zeichneten sich Planungen durch einen hohen Flächenverbrauch aus.
Die Siedlung Lockerwiese wurde ebenfalls am Stadtrand errichtet. Nach dem Karl-Seitz-Hof ist sie mit 750 Wohnungen die zweitgrößte Gartenstadtsiedlung ­Wiens. Realisiert wurde sie ab 1928 gemäß den Plänen von Karl Schartelmüller auf Weideland, wobei der Bau in mehreren Etappen verlief. Im Gegensatz zum Gemeindebau in Floridsdorf zeichnet sich der Gemeindebau im 13. Wiener Gemeindebezirk durch eine niedrige, kleinparzellige Bauweise aus.

 

Das Zukunftsmodell der Stadtentwicklung?

Ist die Gartenstadt also die Antwort auf die Klimakrise? Alle Probleme der heutigen Zeit wird das Konzept alleine sicherlich nicht lösen. Doch liefert es zukunftsweisende Ansätze für umweltverträgliche Planungen. Die Idee zeigte bereits vor hundert Jahren auf, dass sich selbst in dicht verbauten Städten auf begrenzter Fläche – unabhängig von Bauform und Materialien – Siedlungsmodelle mit hoher Wohn- und Lebensqualität realisieren lassen.
Selbstverständlich ließ und lässt sich das Konzept auf schon verbauten Flächen nicht in seiner ursprünglichen Form realisieren. Verwirklichte Gartenstadtprojekte zeigen allerdings, dass es auch auf räumlich begrenzten Arealen möglich ist, mehr „Grün“ in die Stadt zu integrieren. Heute ist das Wachstum von Pflanzen nicht auf den Boden beschränkt. Mithilfe entsprechender Materialen können Gewächse auch entlang von Hausmauern oder auf Dächern gedeihen. Solche Maßnahmen lassen sich nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei bereits bestehenden Siedlungen und Objekten umsetzen. Vor allem bei Sanierungen ergeben sich gute Chancen, die Gartenstadtidee zu implementieren und den Freiraum aufzuwerten.

 

Text:©Dolores Stuttner

Fotos:©Bwag

 

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Kategorie: Architekturszene