Das Rote Wien – eine Ideologie der Architektur

13. März 2019 Mehr

„Wenn wir einmal nicht mehr sind, werden die Steine für uns sprechen.“ Karl Seitz

Ideologien spiegeln sich häufig in der Architektur wider. Auch die Stadt Wien ist Trägerin eines wichtigen politischen Erbes. Bereits 100 Jahre liegt die Geburtsstunde des Sozialismus in der Bundeshauptstadt zurück. Das Rote Wien ist nicht nur eine politische, sondern vielmehr eine gesellschaftliche und architektonische Ideologie. Eine der bedeutendsten Errungenschaften aus der damaligen Zeit sind die kommunalen Wohnbauten, die auch heute noch das Ortsbild der Bundeshauptstadt prägen. Alleine in der Ersten Republik errichtete die Stadt Wien 382 Gemeindebauten. Geplant wurden diese von 199 Architekten. Doch trotz der großen Zahl an Planern setzte sich beim sozialen Wohnbau der Zwischenkriegszeit ein unverkennbarer Stil durch. So sind die Bauten der Zwischenkriegszeit auch heute noch auf den ersten Blick erkennbar.

Insgesamt besitzt die Stadt Wien 220.000 Gemeindewohnungen – dies macht sie zur größten Hausverwaltung Europas. Die Bauten sind in den Wiener Bezirken unterschiedlich stark vertreten. In den dicht verbauten Stadtteilen Mariahilf, Josefstadt und Neubau ließen sich mit den kommunalen Wohnbauten nur wenige Lücken füllen. Dagegen weisen der 5. und der 12. Wiener Gemeindebezirk eine im Vergleich zu ihrer Fläche sehr hohe Zahl der weitläufigen Wohnanlagen auf. Zu verdanken ist dies den Grundstücksankäufen entlang des heutigen Margareten- und Meidlinger Gürtels. In der Inneren Stadt errichtete man in der Ersten Republik keine kommunalen Wohnbauten.

 

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Karl Seitz Hof, Foto:©Bwag

 

Ein soziales Konzept stiftet Identität

Unzumutbare Verhältnisse prägten zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Wohnsituation der Arbeiterschicht. Erste Ansätze eines kommunalen Wohnbaus entstanden um die Jahrhundertwende – in der Anfangszeit bestand die Hauptmotivation in der Linderung der Wohnungsnot. Die Idee nahm schließlich in Form von Werkswohnungen, die durch die Floridsdorfer Lokomotivfabrik, die Firma Breviller & Urban sowie karitative Vereine errichtet wurden, Gestalt an. Trotzdem besserten sich die Lebensumstände der Wiener Arbeiterklasse nur langsam – so kamen im Bezirk Ottakring im Jahr 1910 auf 177.000 Einwohner lediglich 40.000 Wohnungen. Die politische Voraussetzung für den sozialen Wohnbau wurde schließlich erst 1917 und obendrein ungewollt geschaffen.

Nach Protesten seitens der Bevölkerung sah sich die Regierung dazu gezwungen, eine Mietschutzverordnung ins Leben zu rufen. Sie war ursprünglich Familien von Soldaten vorbehalten und sollte diese vor dem Verlust ihrer Wohnung bewahren. Aus diesem Konzept heraus entwickelte sich 1919 – als die Stadt zum ersten Mal unter sozialdemokratischer Verwaltung stand – die Idee zur Errichtung gemeindeeigener Großwohnanlagen, deren Wohnungen erschwinglich sein sollten. Die so genannten „Superblocks“ sollten aber nicht nur Wohnraum, sondern auch soziale Infrastruktur zur Verfügung stellen. So wurden in den Erdgeschosszonen der Gemeindewohnbauten Kindergärten, Volksbibliotheken, Werkstätten, Veranstaltungs- und Versammlungssäle, Geschäftslokale und Mutterberatungsstellen angesiedelt – all jene Einrichtungen standen den Bewohnern zur kollektiven Nutzung zur Verfügung. Der erste soziale Wohnbau, der Metzleinstaler Hof im 5. Wiener Gemeindebezirk, war schließlich 1925 bezugsfertig.

Möglich wurde der kommunale Wohnbau aber nicht alleine durch den politischen Umbruch, sondern auch durch den zunehmenden Besitz von Bauland durch die Stadt Wien. Bereits 1924 war die Bundeshauptstadt mit 2,6 Millionen Quadratmetern Bauland größter Grundbesitzer in Österreich. Der Stadt war es dadurch auch möglich, Bodenspekulation einzudämmen.

 

Architektur als politischer Spiegel

Nicht nur schön anzusehen, sondern vor allem lebenswert sollte der kommunale Wohnbau sein. Den „verlogenen Scheinfassaden“ der Zinshäuser des Jugendstils sagte die so genannte „Architektur des Proletariats“ in der Ersten Republik den Kampf an. Dies tat sie, ohne in eine stilistische Eintönigkeit zu verfallen. In den Gemeindebauten sind nicht nur Sachlichkeit, sondern gleichzeitig historische Einflüsse des Klassizismus und des Wiener Sezessionismus zu finden – schließlich befanden sich unter den zuständigen Architekten viele Schüler Otto Wagners. Der unverkennbare Stil setzte sich in Wien durch und ist heute fixer Bestandteil des Stadtbildes. Die einprägsame Ästhetik hatte dabei zusätzlich sozialen Nutzen. So dienten die weitläufigen und oft begrünten Höfe der Wohnanlagen als Aufenthalts und Naherholungszonen, soziale Treffpunkte und Kinderspielflächen.

Leider setzte sich der Baustil nur bis in die 1930er-Jahre durch. In der Nachkriegszeit kam bei der Realisierung sozialer Wohnbauten ein anderer, weitaus schlichterer Ansatz zum Tragen. Grund war eine große Nachfrage nach Wohnungen bei knappen Baugründen. Aus dem Bestreben heraus, in kurzer Zeit viele Wohnungen zu errichten, entstand die Per-Albin-Hansson-Siedlung West im 10. Wiener Gemeindebezirk. Der erste kommunale Wohnbau der Nachkriegszeit wurde im Jahr 1947 ausschließlich aus Ziegelschuttbeton errichtet. In den darauffolgenden Jahren fehlte es der Stadt Wien aber nicht nur an Baugründen, sondern gleichzeitig an finanziellen Mitteln. So kam es dazu, dass sich am Stadtrand hohe Wohnblöcke mit minimalistischer Fassadengestaltung häuften. In den 1970er-Jahren versuchte sich die Stadt schließlich im Bauen identitätsstiftender Bauten. Als Ergebnis davon entstand unter anderem die Wohnhausanlage am Schöpfwerk im 12. Wiener Gemeindebezirk.

In den darauffolgenden Jahren gerieten die sogenannten Großwohnsiedlungen am Stadtrand aufgrund sozialer Problematik aber in Verruf. Auch die Stadt erkannte, dass sich eine derartige Konzentration großer Menschenmengen in Gegenden mit fehlender sozialer Infrastruktur negativ auf die Sicherheit auswirkte. Da ab den 1970er-Jahren zudem die Nachfrage nach Wohnungen wieder zurückging, realisierte Wien ihre kommunalen Wohnbauprojekte überwiegend in bereits bewohnten, dicht verbauten Gebieten, um Baulücken zu schließen.

 

 

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Karl Marx Hof, Foto:©Dreizung

 

Lehren für die Stadt(planung)

Auch wenn die Bauweise einiger Gemeindebauten nicht mehr den heutigen Standards der Architektur entspricht, darf nicht vergessen werden, wie sehr Wien durch den kommunalen Wohnbau geprägt und verändert wurde. Und die Veränderungen waren durchweg positiv – so war es mit dem Gemeindebaukonzept möglich, der Arbeiterklasse leistbare Wohnungen von guter Qualität zur Verfügung zu stellen und die Wohnungsnot einzudämmen. Vor allem mit den Wohnkomplexen der Zwischenkriegszeit schaffte es die Stadt, in ganzen Bezirksteilen identitätsstiftende Architektur zu realisieren. Jene Konzepte prägen bis heute das Ortsbild der Stadt, wobei die Wohnungen noch immer einen guten Ruf genießen – immerhin lebt heute jeder vierte Wiener in einem Gemeindebau. Zu verdanken ist die Beliebtheit der Gemeindewohnungen nicht zuletzt den Sanierungsmaßnahmen der letzten Jahre. 2.522 kommunale Wohnbauten wurden zwischen 1994 und 2005 renoviert, sodass die darin befindlichen 122.000 Wohnungen dem modernen Standard entsprechen.

Allerdings muss sich der kommunale Wohnbau der Stadt heute großen Herausforderungen stellen – diese sind nicht bautechnischer, sondern vor allem politischer und damit finanzieller Natur. Die rapide ansteigenden Bau- und Grundstückskosten wirken sich auch auf die Mietpreise der Gemeindewohnungen aus – so stellt sich die Frage, ob es noch immer gerechtfertigt ist, von „sozialem Wohnbau“ zu sprechen. Da jedes Jahr noch immer an die 10.000 Gemeindewohnungen vergeben werden, ist dies eine Fragestellung, der sich Wien auf jeden Fall widmen sollte. Noch gibt es seitens der Hauptstadt diesbezüglich keine Ansätze – auch die Errichtung des bisher letzten Gemeindebaus liegt schon lange, nämlich 15 Jahre zurück.

 

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Metzleinstaler Hof, Foto:©Bezirksmuseum Margareten

 

Text:©Dolores Stuttner

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Kategorie: Architekturszene