Alltagsarchitektur und zeitgenössische anonyme Architektur

9. September 2011 Mehr

(c) Philip Mörwald

Es ist ein winzig kleiner Teil der Weltarchitektur, um den es üblicherweise in den hochglänzenden Fachmagazinen geht. Und nur ein winziger Teil der Architektur stammt überhaupt aus Architektenhand. In den sogenannten Megacitys wachsen ganze Stadtviertel informell, ohne dass irgendein Architekt und noch nicht mal ein Raumplaner daran Hand angelegt hätten. Diese Tatsache sind zumindest für die AG Architektursoziologie Grund genug, sich in ihrer jährlichen Fachtagung, die am 13. und 14. Mai, diesmal in Wien stattfand, mit dem Thema „Everyday Architekture & Contemporary Vernacular“ (Alltagsarchitektur und zeitgenössische anonyme Architektur) auseinanderzusetzen.

(c) Alexander Kubik

Architektursoziowas?

Handelt es sich bereits bei der Soziologie um eine relativ junge Wissenschaft, so hat die Architektursoziologie fast noch überhaupt keine Geschichte. Bis auf einige architektur- und ideologiekritische Ansätze in den 1970er-Jahren gab es sie bis vor Kurzem schlichtweg noch nicht. Es gibt allerdings bereits indirekte architektursoziologische Studien bei Klassikern wie Georg Simmel, Walter Benjamin, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Marcel Mauss, Siegfried Kracauer und Hans Paul Bahrdt. Von der Begründung der Architektursoziologie als eine neue Disziplin in Theorie, Methodologie und Forschung kann allerdings erst seit 2004 gesprochen werden, als erste einschlägige Monografien, wichtige Aufsätze und erste Fallstudien erschienen.
Im Gegensatz zur Stadtsoziologie, deren Gegenstand die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen im städtischen Raum sind, beschäftigt sich die explizite Architektursoziologie, stets in Hinsicht auf die Gesellschaft und das soziale Leben, mit Gestalt, Phänomenalität, Materialität und Expressivität des Gebauten selbst. 2007 hat sich aus den beiden Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie: Stadt- und Regionalsoziologie, sowie Kultursoziologie die Arbeitsgemeinschaft (AG) Architektursoziologie gegründet, welche seither jährlich Workshops organisiert.

(c) Alexander Kubik

„Everyday Architekture & Contemporary Vernacular“

Entsprechend der verschiedenen Disziplinen, aus denen die Fachleute der AG Architektursoziologie kommen (Architektur, Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie usw.), wurden in fünf Vortragsrunden verschiedenste Aspekte des diesjährigen Themas „Alltagsarchitektur und zeitgenössische anonyme Architektur“ aufgegriffen und aus verschiedensten Richtungen betrachtet. Dabei wurde das Thema in die Bereiche „Vernakulisierung“, „Transformation“, „Eigenheim“, „Methoden“ sowie „Wissen und Praxis“ aufgeteilt.

(c) A. Aigner

In ihrem Vortrag „Verancularization and back“ berichtete Anita Aigner von der TU Wien, beispielsweise anhand der Fallstudie Pessac, über die widersprüchlichen Interessen von BewohnerInnen in ihrem Bestreben nach Aneignung und von ExpertInnen, die eine Bewahrung der modernistischen Sozialwohnbauten fordern. Seitdem die frühe Arbeitersiedlung Pessac von Le Corbusier (1925–1926) als nationales Erbe anerkannt wurde, werden die erfolgten nutzerseitigen Überformungen von den ExpertInnen als auszumerzendes Übel bekämpft. Thematisiert wurde der kulturelle Konflikt, der dadurch entsteht.  Vor allem aber wurde die institutionelle Praxis, die auf Durchsetzung einer normativen Ästhetik, welche Vorstellungen von Architektur als „Original“ und „richtigem“ Wohnen enthält, und auf Disziplinierung kulturell mittelloser Bewohnerschichten ausgerichtet ist, kritisch betrachtet.

(c) Alexander Kubik 

Zum Thema Transformation referierte hingegen Stefan Maneval, Doktorand der Graduate School of Muslim Cultures and Societies/FU Berlin, über den Wandel der Wohnarchitektur in Jidda (Saudi Arabien) in den 1950er- und 1960er-Jahren. Die Erdölindustrie hat in dieser 1.400 Jahre alten Hafenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg einen rasanten ökonomischen Wandel hervorgerufen. Die aufgrund des enormen Bevölkerungswachstums herrschende Wohnungsnot erforderte die Mithilfe von Architekten und Bauleuten aus dem Ausland, was zu einem radikalen Bruch der Neubauten mit der lokalen Bau-, Wohn-, und Lebensweise führte. Der neu geschaffene Wohnraum wurde durch neue Materialien eindeutiger zur Außenwelt abgegrenzt, was dazu führte, dass viele Aktivitäten, die vorher an der Schnittstelle zwischen innen und außen stattgefunden hatten, entweder nach innen oder nach außen verlagert werden mussten. Im Vortrag wurde erörtert, inwiefern die Anpassung des Alltags an die neuartige Architektur das gesellschaftliche Leben der Stadt verändert hat.

(c) Philip Mörwald 

Mehrmals thematisiert und heiß diskutiert wurde das Phänomen Fertighäuser, das sich unter Hauskäufern einer immer größeren Beliebtheit erfreut. Kritisch hinterfragt wurde dabei, inwiefern von einem individuellen Gestaltungswillen, der BauherrInnen üblicherweise unterstellt wird, überhaupt ausgegangen werden darf. Vielmehr als der Ruf nach Individualität scheint häufig Prestige ein Grund dafür zu sein, einen Architekten mit der Planung seines Eigenheimes zu beauftragen, zumal dieser ja meistens dem Vorurteil unterliegt, vor allem seinem eigenen individuellen Gestaltungswillen Ausdruck verleihen zu wollen.
Andererseits muss in Erwägung gezogen werden, dass sich Käufer eines Fertighauses durch das enorm große und vorgeblich vielfältige Angebot in ihrem individuellen Gestaltungswillen nicht weniger frei fühlen, als durch die Beauftragung eines Architekten. Die Möglichkeiten flexibler Produktionsweisen durch CAD- und CNC-Technik, unter Beibehaltung der Serialität, versprechen Kunden heute eine nie da gewesene Individualität.
Durch Analyse der Slogans und Bilder, mit denen Fertighäuser beworben werden, versuchte Julia Gill von der TU Braunschweig aber den tatsächlichen Wünschen und Sehnsüchten der Hauskäufer auf den Grund zu gehen. Ihr Buch „Individualisierung als Standard. Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur“ ist 2010 im transkript-Verlag erschienen.

Vielleicht nicht ganz von ungefähr soll das Thema der nächsten Tagung der AG Architektursoziologie „die Soziologie des Architekten“ lauten. Welche Rolle wird der Architekt in einer Zeit, in der Eigenheime immer häufiger von der Stange gekauft als maßgeschneidert werden, spielen?

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Kategorie: Architekturszene