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6 architektur FACHMAGAZIN Start Zeiten(w)ende „Architektur gibt den Orten, an denen Menschen leben, eine Form. Solange diese Form nicht die Basisbedürfnisse eines Großteils aller Menschen auf der Welt abdecken kann, ist das Entwerfen von Architektur nur Unterhaltung.“ Die Architekturbiennale in Venedig gibt mit ihrem Thema immer die Richtung für die nächsten Jahre in der Architektur vor. Mit „Reporting from the Front“ bringt der chilenische Architekt und Kurator Alejandro Aravena die Architektur endlich dorthin, wo sie schon lange sein sollte: in die wirkliche Realität, an die Front zu den Menschen. Alejandro Aravena, Venedig 2016 Text: Peter Reischer Mehrere Kuratoren hatten sich schon an eine Erneuerung der Szene gewagt – allein, scheinbar war die Zeit nicht reif dafür. Jetzt ist sie es: Bürgerbewegungen, Krisen, Kriege und Migrationsprobleme haben den Boden bereitet. Aravena fokussiert sich in seinem Thema auf die größten Probleme unserer Welt, unserer Gesellschaft: Das beinhaltet Verbrechen, Segregation, Abfall, Wohnraumverknappung, Verkehr und Umweltschäden genauso wie Technikhörigkeit und Effektivitätswahn. Er hat die Fundamentals von Koolhaas (2014) gut studiert, sie um die Dimension des Sozialen in der Architektur erweitert und seine Conclusio daraus gezogen. Alles zeigt von einer bewussten oder auch unbewussten Vorwegnahme einer Revolution, eines Wandels. Die Menschen haben das Alte – nicht nur in der Politik – satt. Diese Biennale stellt eine Zertrümmerung der gewohnten Szene dar, nachher wird nichts mehr so sein wie zuvor. Persönliche Befindlichkeiten wie „der Pavillon, die Ausstellung, das Projekt haben mir besser oder weniger gut gefallen“, Aussagen © Giorgio Zucchiatti wie „die Themen seien zu schwer verständlich, zu verkopft“, sind zwar aus subjektiver Sicht zulässig, aber insgesamt obsolet. Wer als Journalist oder Architekt so über das Gesehene, das Konzeptuelle dieser Zusammenstellung von Visionen, von Richtungen urteilt – der hat die Aussage, den Inhalt der Biennale nicht verstanden. Und wer bloß sachlich, analytisch beschreibend und erzählend darüber berichtet – auch nicht. Ein bisschen Vertiefung und Begeisterung ist schon gut und tut auch not. Diese Architekturbiennale ist ein Lernprozess für jeden Besucher, auch für Journalisten, sie ist kein Konsumartikel. Sie fordert heraus, ist anstrengend (nicht nur durch die langen Wegstrecken). Man darf nie die Geduld verlieren, muss lesen, nachdenken und auch mit den Anwesenden sprechen. Wer dort nicht fragt – bleibt auf der Strecke. Aravena ist offensichtlich der Prozess wichtiger als das Resultat. Deshalb beginnen auch die Texte bei den Projekten im Arsenale und im Hauptpavillon auf den Giardini – wohlweislich – mit „The work of ... in ...“. So © Peter Reischer


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